Selbstethnographien – kulturanthropologisch

Trotz einer sozialwissenschaftlichen Diagnose, die besagt, wir befänden uns in einer stark säkularisierten Zeit, spricht vor dem Hintergrund jüngerer ethnographischer Mikrostudien einiges für Jürgen Habermas’ Beobachtung, dass sich das frühe 21. Jahrhundert durch einen eher postsäkularen Charakter auszeichne. Dieser lasse die vermeintliche „Wiederverzauberung der Welt“ als ein gesellschaftliches Bedürfnis deutlich zutage treten. Die empirischen Befunde zeigen, dass Kirchenferne zwar ein unübersehbares Merkmal von Alltagskulturen in Dienstleistungs- und Industriegesellschaften ist, sich spezifische Formen von gelebter Religiosität bzw. Spiritualität aber einer auffälligen Vitalität und Beliebtheit erfreuen. Häufig wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften von eklektizistischen Basteleien oder einer alternativen Spiritualität gesprochen – wobei nicht selten ein pejorativer Unterton mitschwingt. Neben der eher als tendenziös zu bezeichnenden Kritik einiger Wissenschaftler*innen an einer hedonistischen Lebensführung mag die Abwertung womöglich mit der Wiederbelebung vermeintlich heidnischer Weltanschauungen und Praktiken zusammenhängen (Stichwort Neuheidentum), bilde sich hier doch das Infragestellen, wenn nicht gar die Ablehnung bestehender christlicher Grundwerte durch die Akteure ab.

Der Kulturanthropologie/Volkskunde ist als qualitativ-empirisch ausgerichteter Deutungswissenschaft daran gelegen, einen Beitrag zur Differenzierung solch gesellschaftlich relevanter Diskurse zu leisten, indem der Fokus auf die emische Perspektive – d.h. die Sicht der Akteure – und alltägliche Umsetzungen und Aushandlungen gelegt wird. Werden die spirituell konnotierten Konzepte der Weltdeutung meist als Wunsch nach lebensweltlich passenden Alternativen zu den bislang etablierten Orientierungshilfen (z.B. Biomedizin, Naturwissenschaften, Kirche) interpretiert, bleibt dennoch weiterhin zu fragen, mithilfe von welchen kulturellen Repertoires diese Selbstformung konkret thematisiert und praktiziert werden. Hier tritt ein entscheidender Unterschied zum zuvor ausgeführten theologischen Zugang zutage: Einer kulturanthropologisch-volkskundlichen Arbeit wird es, anders als der Systematischen Theologie/Sozialethik, nicht um ethisch geführte Bewertungen des jeweils untersuchten Phänomens gehen.

Für die Interpretation gesellschaftlicher Konfigurationen ist dies auch deshalb relevant, da der einträgliche Markt um das Phänomen Alltagsspiritualität eine spezifische individuelle Expertise erfordert, um erfolgreich am Ratgebermarkt mitzuwirken – als Autor einschlägiger Ratgeber oder als wahrhaftiger Ratgeber im Setting von Einzel- oder Gruppenbehandlungen. Um den Herstellungstechniken von biographischer Kohärenz kulturanalytisch produktiv nachgehen zu können, böte sich etwa die kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse nach Albrecht Lehmann an, deren Bemühungen von der These ausgehen, dass wir „eine Geschichte mit einem für uns möglichst auch für unsere soziale Umwelt akzeptablen Ende“ gestalten und die „Vergangenheit in den Leitlinien unseres Denkens und Redens zielgerichtet auf unsere Gegenwart hin“ deuten. In ganz auffälliger Weise zeigen sich hier Anschlussfähigkeiten an narrative Konstruktionen des Selbst in der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft und an theologische/sozialethische Zugänge („Narrative Ethik“).

Für den fächerübergreifenden Austausch und die jeweilige disziplinäre Profilbildung sind gerade die latent anderen Fragestellungen von besonderer Produktivität. Die Spannung, die sich bei der Betrachtung und Analyse gleicher Forschungsfelder aus unterschiedlicher Perspektive ergeben mag, ist kein Manko, sondern unterstreicht das Potential des beantragten Kollegs. Denn Stipendiat*nnen als Vertreter*nnen einer Disziplin wie der Kulturanthropologie/Volkskunde, der es um das Nachspüren und Nachvollziehen unterschiedlicher Sinnprovinzen im Kontext soziokultureller Bedingtheiten geht, müssen sich im Sinne einer „demokratischen Kulturgeschichtsschreibung“ einerseits mit normativen Fragen an das Forschungsfeld auseinandersetzen, um nicht in einem zwar demokratisch vereinbaren, aber dennoch ideologischen Rehabilitationsmodus verhaftet zu bleiben (Stichwort Engaged Anthropology). Andererseits können dadurch, dass die beteiligten Beforschten im Rahmen der Forschung selbstreflexiv zu Wort kommen können, differenziertere Portraits der untersuchten Phänomene entstehen, welche die Doktorand*nnen der anderen beiden beteiligten Fächer anregen mögen, selbstkritisch über die womöglich in einem ebenso inadäquaten Elitendiskurs verankerten eigenen Interpretationen nachzudenken.