Selbstethnographien – theologisch

Auch in der Theologie werden Ethnographien des Selbst in der Gegenwart thematisiert. Eine theologische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Möglichkeiten des Sich-selbst-Verstehens ist durch die Konzeptionen der Selbstformung und Selbstoptimierung geradezu herausgefordert. Die Theologie ist nicht nur traditionell für die Existenz betreffende Fragestellungen zuständig, sondern verfügt auch über ein spezifisches Kritikpotential: Gerade die reformatorische Tradition steht bekanntlich Programmen der Selbstverwirklichung ambivalent gegenüber. Dieses Kritikpotential ist auf seine gegenwärtige Relevanz hin zu prüfen. Hieraus ergeben sich folgende Themenfelder und Fragestellungen:

(a) Frage nach der Willensfreiheit: Inwiefern sind der menschlichen Gestaltungskraft hinsichtlich des eigenen Selbst Grenzen gesetzt? Können wir tatsächlich bestimmen, welche Motive, Bedürfnisse und Sehnsüchte uns bestimmen oder bestimmen diese immer schon, was wir wollen? Damit taucht die Frage auf: Welches Verständnis menschlicher Freiheit tritt in den gegenwärtigen Ethnographien des Selbst zutage?

(b) Frage nach Sakralisierung: In welcher Weise werden religiöse Traditionen neu interpretiert und für eine neue Form des Sich-selbst-Verstehens dienstbar gemacht? Welche Bedeutung kommt dabei religiösen Demuts-Konzeptionen zu? Reformatorische Theologie unterscheidet zwischen einer theologia crucis und einer theologia gloriae. Können die Ethnographien des Selbst in der Gegenwart noch diejenigen Traditionen zur Geltung bringen, die die Brüchigkeiten und Ambivalenzen der menschlichen Existenz thematisiert haben? Werden klassische christliche Themen wie „Schuld“ und „Vergebung“ in den Blick genommen oder werden sie ersetzt durch spirituelle Praktiken der Selbststeigerung?

(c) Frage nach dem „gelingenden Leben“: Welche Sicht des gelingenden Lebens tritt in den Ethnographien des Selbst in der Gegenwart zutage? Welche Glücksversprechen sind in ihnen enthalten? Andererseits: Welche möglichen Problematiken sind hiermit verbunden? Bereits 2003 hat Dieter Thomä kritisch gefragt: „Wenn man von Selbstverwirklichung spricht, unterstellt man offensichtlich, daß das eigene Selbst noch nicht verwirklicht sei. Es soll, hält man sich an die Semantik, erst nur der Möglichkeit nach existieren; es steht noch aus. Das zwingt zu dem Umkehrschluss, daß man so, wie man gerade ‚wirklich’ ist, alles andere ist als man ‚selbst’“. Woran also erkennt man, wenn Selbstverwirklichung zum Ziel des Handelns gemacht wird, dass dieses Ziel erreicht ist? Inwiefern droht Selbstgestaltung zum Selbstverlust und die Gegenwart zugunsten einer noch ausstehenden idealen Zukunft zur Uneigentlichkeit, zum Noch-Nicht degradiert zu werden?

(d) Verbunden damit ist die Frage nach der ethischen Dimension der neuen Selbstkonzeptionen: Welche Pflichten gegenüber anderen sind noch bekannt? Wie werden diese begründet, und sind sie mit den jeweiligen Konzeptionen des Selbst verbunden? V.a. aber taucht ein Problemfeld auf, das in der theologischen Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium (Zuspruch und Anspruch) traktiert wird. Welche Formen des Zuspruchs kennen diese Konzeptionen und welcher Anspruch ist in ihnen enthalten? Bzgl. der Frage nach jenen den unterschiedlichen Konzepten der Selbstformung zu Grunde liegenden Normierungsprozessen ist das Projekt der ‚narrativen Ethik’ verpflichtet. Zur Debatte steht hier, wie durch das Erzählen von Geschichten „ethische Signifikanz“ erzeugt wird. Die narrative Ethik analysiert deshalb nicht explizit benannte Werte und Normen von Konzepten der Selbstformung, sondern deren „storys“ und Erzählungen. Welche Geschichten werden wie erzählt? Auf welche bisher unbedachten „Merkmale der Welt“ wird aufmerksam gemacht, welche neuen Aspekte treten in den Fokus der Wahrnehmung? Die theologischen Fragen können anhand ganz unterschiedlichen Materials bearbeitet werden: Ratgeberliteratur, literarische Zeugnisse, neue Formen religiöser Spiritualität oder spezifisch generationelle Selbstverhältnisse (Bsp. Millenials). Entscheidend ist daher die Verknüpfung mit den beiden anderen Arbeitsfeldern (3.1 und 3.3): Die Zusammenarbeit mit der Neueren Deutschen Literaturwissenschaften trägt dazu bei zu verstehen, wie ethische Aussagen narrativ verarbeitet werden; die Zusammenarbeit mit der Kulturanthropologie/Volkskunde dazu, die Konstruktionen des Selbst zu verstehen.