Veranstaltungsort
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Tagungsprogramm
Donnerstag, 16.5.
15.00 Ankunft und Kaffee
15.30 Begrüßung
15.45 Hubert Knoblauch: Populäre Religion.
Transzendenz, Spiritualität und die doppelte Subjektivierung des Selbst
16.30 Jochen Schmidt: Sakralisierung des Selbst und Heiligkeit der Person.
Überlegungen über Moral, Heiligkeit und Demut im Anschluss an Kant
17.15 Kaffee
17.30 Ruth Conrad: Sakralisiertes Fragment.
Überlegungen zu einer (überstrapazierten?) Kategorie praktisch-theologischer Anthropologie
18.15 Diskussionsrunde
ab 19.30 gemeinsames Abendessen in Mainz
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Freitag, 17.5.
10.00 Wilhelm Gräb: Hauptsache authentisch.
Spiritualitätstrends zwischen Selbstinszenierung, Selbstexpression und Selbstinterpretation
10.45 Christine Bischoff: Kennen und Bekennen.
Konversion als Kuratierung des religiösen Selbst
11.30 Kaffee
11.45 Sabine Kyora: „Unterwegs im Namen des Herrn“?
Autofiktionale Texte und ihr Umgang mit religiösen Codes
12.30 Sigrid Nieberle: Wie geschaffen werden.
Identitätsdiskurse des Intersexuellen
13.15 Mittagessen
14.30 Lothar van Laak: Selbsterforschung als Selbstheilung.
Überlegungen zur Erzählpoetik Patrick Roths
15.15 Jörg Schneider: Über die Metapher der „Oase der Stille“.
Spirituelles „Auftanken“ in der Leistungsgesellschaft als Element der Selbstformung
16.00 Abschlussdiskussion
Thema und Fragestellung der Tagung
Die Vielfalt an Praktiken und Traditionen der Subjektivierung und Selbstformung, die aktuell zu beobachten sind, untersucht das Mainzer Graduiertenkolleg unter dem Titel Ethnographien des Selbst in der Gegenwart. Sein besonderer Fokus liegt auf den Phänomenen der Optimierung, Sakralisierung und Normierung, die im transdisziplinären Austausch zwischen Neuerer deutscher Literaturwissenschaft, Systematischer Theologie / Sozialethik und Kulturanthropologie / Volkskunde analysiert werden.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass gegenwärtige Formierungen des Selbst mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters und veränderten Möglichkeiten der Selbstinszenierung in den Social Media eng verbunden sind – wie neue Formen des Lifestyles sowie IchPerformanzen zeigen, die über Kulte und Rituale strukturiert sind, von einer Ästhetisierung und Kultivierung der Existenz zeugen und insofern sakralisierende Züge annehmen können, als sie mit einer Entgrenzung von Heiligem und Profanem, von Religiösem und Säkularem in Verbindung zu stehen scheinen. Aber auch neue Formen der Disziplinierung und Sichtbarmachung des Körpers stellen das Subjekt in der Gegenwart vor völlig neue Herausforderungen.
Gleichzeitig rufen diese neuen Strategien der Selbstformung und Selbstbehauptung Skepsis und Kritik hervor. Kritisiert werden deren Normen und Werte, insbesondere hinsichtlich der sozialen Auswirkungen einer Fitnesskultur und Castinggesellschaft mit ihrem Zwang zu permanenter Selbstdarstellung und -vermarktung: Etwa über ‚Influencer’ verbreitete Vorstellungen von einem guten Leben, das mit seiner Leistungs- und Gesundheitsorientierung auf rigiden Praktiken der körperlichen Disziplinierung und auf einer asozialen Form der Askese und Selbstaufmerksamkeit aufbaut, oder neue Varianten des Narzissmus und Egoismus, der sozialen Kälte, des fehlenden Anstands und damit verbundene defizitäre Anerkennungsstrukturen.
Die erste Jahrestagung widmet sich diesen Zusammenhängen mit einer Fokussierung auf das Phänomen der Sakralisierung. Sie fragt zum einen danach, in welchem Verhältnis Praktiken und Konzepte des Selbst in der Gegenwart zu Formen der Selbsterhöhung stehen; zum anderen interessiert sie sich für den Stellenwert, der religös codierten Zuschreibungen bzw. ursprünglich religiös konnotierten Symbolisierungspraktiken in diesem Zusammenhang zukommt: Welche Arten und Weisen der Aufladung der eigenen Lebensgeschichte mit religiöser Symbolik oder welche Formen gelebter Religiosität bzw. Spiritualität lassen sich beobachten?
Wie sind sie diskursiv zu verorten? In welche kulturellen, ethischen und ästhetischen Problemhorizonte sind die gegenwärtigen ‚Sakralisierungen des Selbst‘ zu stellen? Diese Fragen will die Tagung aus theologie-, kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive ergebnisoffen diskutieren.
Folgende, nicht abschließend gedachte Fragestellungen bieten sich für die Diskussion an:
• Welche Verbindungen bestehen zwischen zeitgenössischen und historischen Praktiken der Selbsterhöhung?
• Sind die gegenwärtigen Formen einer ‚Sakralisierung des Selbst‘ Ausdruck eines Infragestellens oder gar Ablehnens bestehender christlicher Grundwerte? Oder sind sie ein Ausdruck dessen, was Jürgen Habermas unter dem post-säkularen Charakter des frühen 21. Jahrhunderts mit seinem gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer „Wiederverzauberung der Welt“ versteht?
• Gibt es ein womöglich gesteigertes Bedürfnis nach biographischer (und emotionaler) Verortung in einer Welt, die zunehmend als komplexer und rasanter werdend erlebt wird?
• Können die Ethnographien des Selbst in der Gegenwart noch diejenigen Traditionen zur Geltung bringen, die die Brüchigkeiten und Ambivalenzen der menschlichen Existenz thematisiert haben?
• Werden klassische christliche Themen wie „Schuld“ und „Vergebung“ in den Blick genommen oder werden sie ersetzt durch spirituelle Praktiken der Selbststeigerung?
• In welcher Weise werden religiöse Traditionen neu interpretiert und für eine neue Form des Sich-selbst-Verstehens dienstbar gemacht?
• Muss die quasi-religiöse Funktion einschließlich der für Religionen typischen Heilsversprechen, welche dieser Kultur der Selbstoptimierung eingeschrieben scheinen, als Instrument gegen den Schmerz des Alterns bezeichnet und letztlich als Indiz für die Sehnsucht nach „Unsterblichkeit“ verstanden werden? Oder sind alternative Deutungsmuster denkbar?
• Inwiefern lassen sich Ego-Dokumente wie Autobiographien, Tagebücher, Briefe oder Reiseberichte, aber auch andere literarische Gattungen als Orte der Thematisierung und Reflexion von ‚Sakralisierungen des Selbst‘ verstehen?
• Welche Verbindungen erschließen sich zu aktuellen autofiktionalen Verwirrspielen um die Autorschaft, in denen performative und inszenatorische Aspekte eine zentrale Rolle spielen?
• Lassen sich diese hinreichend mit dem Kampf um Aufmerksamkeit auf dem literarischen Markt erklären, der zur medialen Präsenz und Selbstvermarktung zwingt, oder sind sie möglicherweise ein Feld, auf dem die Literatur ‚Sakralisierungen des Selbst‘ bearbeitet?
• Welche Verbindungen bestehen zwischen dem entauratisierten Künstlersubjekt der Spätmoderne, der Performativität des künstlerischen Selbst in den Social Media und Prozessen der ‚Sakralisierung des Selbst‘?
• Welche Transformationen des Künstlermythos lassen sich mit Blick auf Selbstbeschreibungen von YouTube- und Castingshow-Akteuren als Künstler beobachten?