Selbstethnographien – literatur- und medienwissenschaftlich

Ethnographien des Selbst sind ein kanonischer Gegenstand der Literaturwissenschaft, insofern sie bei Ego-Dokumenten wie Autobiographien, Tagebüchern, Briefen oder Reiseberichten nach den Formen und Verfahren von Verschriftlichungen/Fiktionalisierungen des Ich fragt. Die gegenwärtige Mediatisierungsdynamik, Sichtbarkeitsordnung und „Aufmerksamkeitsökonomie“ mit ihren Authentizitätsanforderungen und Performanzen des Selbst erfasst allerdings auch kanonische Gegenstände der Literaturwissenschaft und fordert neue Beobachtungs- und Beschreibungskriterien heraus. Der Autor Maxim Biller etwa bezeichnet die Gegenwartsliteratur als „Literatur der Ichzeit“, die den Autor selbst zum „Star“ erkläre. Rezente Romane wie Thomas Glavinic’ „Das größere Wunder“ (2013), Wolf Haas’ „Brennerova“ (2014) oder Thomas Meineckes „Selbst“ (2016) scheinen diesen Trend zu bestätigen, erschließen aber auch autorunabhängige Formen des Star-Kults und der Selbstinszenierung und lassen sich nicht unter dem Stichwort Autofiktion auf Autorschaftsinszenierungen und/oder Positionierungen des Autors im Literaturbetrieb reduzieren. Auch wird die Autofiktion im Herausstellen der inszenatorischen Aspekte von Praktiken der Selbstaufmerksamkeit nicht „profanisiert“, sondern erschließt Dimensionen einer Sakralisierung des Selbst. Außerdem bildet Literatur in der Alltagskultur beobachtbare Selbstformungen nicht einfach mimetisch ab, sondern transformiert sie im und durch das Erzählen: So erschließen sich Möglichkeitsräume des Probehandelns, und es entsteht – anschlussfähig an die Narrative Ethik – im Medium des Ästhetischen eine Beobachtungsebene der Reflexion und Kritik. Verhältnisbeziehungen zwischen nicht-literarischen und literarischen Praktiken der Selbstformung sind also auf inhärente Dimensionen der Optimierung, Sakralisierung und Normierung sowie auf die spezifischen Möglichkeiten literarischer Wissensbildung hin zu analysieren. Hieraus ergeben sich folgende Themenfelder und Fragestellungen:

(a) Verbindungen zwischen dem entauratisierten Künstlersubjekt der Spätmoderne und Prozessen der Sakralisierung und/oder Optimierung des Selbst: Reflektiert das Spiel mit der Autorfigur oder Selbstinszenierungen der Popliteratur diese Verhältnisbeziehungen? Welche Transformationen des Künstlermythos lassen sich mit Blick auf Selbstbeschreibungen von YouTube- und Castingshow-Akteuren als Künstler beobachten? Welches Verhältnis besteht zwischen literarischen Inszenierungspraktiken von Subjektivität und der Performativität des künstlerischen Selbst in den Social Media? Gibt es Verbindungen zwischen der Normalisierung von Kreativität, dem Starsystem der Medienkultur und einem in der Literatur der Moderne positiv konnotierten Dilettantismus als ästhetisches Konzept?

(b) Systematischer Zusammenhang zwischen Prozessen der Wahrnehmung, ihrer Medialität, Prozessen der Aufmerksamkeit und der Zerstreuung sowie Konstitutionen von Subjektivität im Zeichen forcierter Beschleunigungs- und Modernisierungsrhythmen: Wie verändern sich wahrnehmungstheoretische und medienspezifische Fokussierungstechniken der Aufmerksamkeit? Welche Strategien der Wahrnehmungsdisziplinierung und Selbstaufmerksamkeit lassen sich beobachten und welche Wissensfelder sind hierfür zuständig? Greift die Gegenwartsliteratur aktuelle Trends wie Achtsamkeit und Flow auf? Welche Verhältnisbeziehungen zwischen Medien, Anthropologie und Ästhetik gestaltet sie?

(c) Ethik und Ästhetik in historischer Perspektivierung: Welche Rolle spielen Aktualisierungen der antiken Diätetik als Kunst, zwischen den Extremen des „Zuviel“ und des „Zuwenig“ die rechte Mitte zu finden? In welcher Verbindung steht die „Findekunst“ des Maßhaltens zur „Findekunst“ des Genies um 1800, des Künstlersubjekts um 1900 und des Kreativ- bzw. Singularitätssubjekts um 2000? Geben Diskurse der Aufmerksamkeit Antworten auf krisenhaften Verunsicherungen und Orientierungsdefizite?